2023-12-22
Gegen den Antisemitismus gibt es kein Patentrezept. Aber ein erster Schritt sollte darin bestehen, nicht mehr von Antisemitismus zu sprechen. Denn „Antisemitismus“ ist selbst schon antisemitisch.
Der Begriff wurde im 19. Jahrhundert als Propagandabegriff eingeführt. Antisemitisch nannten sich Menschen, die ihre Ablehnung gegenüber Juden und dem Judentum ausdrücken wollten.
Das allein ist noch kein Grund, den Begriff nicht zu verwenden. Die Nationalsozialisten nannten sich Nationalsozialisten und genau so sollte man sie nennen. Der Begriff der Apartheid zum Beispiel ist ein Euphemismus für Rassentrennung, und Rassentrennung selbst ist ein beschönigender Ausdruck für die ungleiche (nämlich schlechtere) Behandlung der Schwarzen in Südafrika. Der Begriff hat aber genau die Bedeutung angenommen, die er eigentlich verschleiern sollte, er bezeichnet das Unrecht, das Weiße an Schwarzen begangen haben. Tatsächlich ist der Begriff so vollständig negativ konnotiert, dass er heute (unhistorisch) als Kampfbegriff (genauso wie auch „Genozid“ und „Kolonialismus“) von Antisemiten auf Juden projiziert wird.
Warum also den Begriff Antisemitismus vermeiden, wenn er doch (möglichst neutral gesagt) die negative Sicht gegenüber Juden bezeichnet? Erstens beinhaltet der Begriff die Behauptung, dass es eine Rasse von „Semiten“ gibt, zu der die Juden gehören. Die Einteilung der Menschen in Rassen war im 19. Jahrhundert populär und dammit einher ging die als selbstverständlich erachtete Annahme, dass es höher- und minderwertigere Rassen gäbe. Das heißt, der bereits vorhandene Rassismus bezüglich Schwarzen oder Asiaten wurde auf Juden erweitert, um eine quasi wissenschaftliche Grundlage für die Abneigung gegenüber den Juden zu schaffen, was nebenbei auch bedeutete, dass assimilierte und sogar konvertierte Juden ausgegrenzt, bekämpft (und schließlich vernichtet) werden konnten, da die Eigenschaft jüdisch zu sein nicht mehr allein durch die Religion definiert wurde. Wenn man also den Begriff verwendet, bedeutet das implizit, die Behauptung zu akzeptieren, dass Juden eine rassische Gemeinschaft sind. Was heute besonders abstrus ist, da die Palästinenser, die von vielen Aktivisten als Opfer der Juden gesehen werden, nach den Kriterien des 19. Jahrhunderts auch Semiten sind.
Der zweite Grund, der gegen die Verwendung spricht, ist die Vorsilbe Anti. Anti-Establishment, Anti-Kapitalismus, Anti-Faschismus, Anti-AKW, antibakteriell usw. Die Liste ist lang. Ein Begriff „Anti-Irgendwas“ bezeichnet per se erst einmal etwas Positives, nämlich die bewusste Ablehnung von etwas Negativem.
Gibt es eine Alternative? Anstelle von Antisemitismus kann man in fast allen Zusammenhängen von Judeophobie sprechen. Bezeichnet man jemanden in Auseinandersetzungen als Antisemiten, so unterstellt man ihm (oder ihr) damit in der Regel entweder Dummheit oder Bösartigkeit (oder beides). Rein taktisch ist das kontraproduktiv. Niemand gibt eine Einstellung auf, nur weil ein anderer sie dumm findet. Die Unterstellung dagegen, dass die negative Einstellung auf einer (irrationalen) Angst vor dem Gegenstand beruht und somit im Grunde Ausdruck einer Krankheit ist, kann jedoch dazu führen, dass die Einstellung aufgegeben oder zumindest abgeschwächt wird.
Ich bin zum Beispiel mit einer als selbstverständlich erachteten Abscheu gegenüber Homosexuellen aufgewachsen. Seitdem diese Haltung von der Gesellschaft als homophob gebrandmarkt wird, hat sich das komplett geändert. Das ist natürlich nur ein autobiographischer, also anekdotischer Beweis. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, die Änderung eines Begriffs ist kein Argument, aber Begriffe bestimmen Wahrnehmung und erzeugen Realität. Das steht auf dem Banner der Woke-Bewegung, die, glaube ich, insgesamt einen eher negativen Einfluss auf die Gesellschaft hat. Aber die Erkenntnis, dass Worte wichtig sind, ist wertvoll, wenn man darüber nicht vergisst, Fakten zur Kenntnis zu nehmen und zu akzeptieren.
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