Liedzeit

Die Maschine oder: Über allen Gipfeln ist Ruh

2024-12-05

George Perec hat 1968 ein Hörspiel gemacht über Goethes berühmtes Gipfelgedicht. Also dem mit der Ruh und den schweigenden Vögeln. Und das wurde nun auf die Bühne gebracht von Anita Vulesica. Da hat es schon schlechtere Ideen gegeben.

Ein Computer dekonstruiert das Gedicht, visualisiert durch eine Kontrollfrau, und vier Herren unter ihr. Sie gibt die Anweisungen, und sie führen aus. Also erst einmal aufsagen, dann jeweils das erste Wort weglassen, jedes Wort zweimal sagen, nur die Substantive, nur die Verben, jedes Substantiv durch das zwei, vier, 150 Stellen dahinter im Lexikon stehende Wort ersetzen, das Ganze rückwärts und so weiter. Das ist schon ziemlich lustig. Außerdem müssen sie Lochkarten falzen und dürfen auf Buzzern hauen und an einem Hebel ziehen. Wie Computer halt so funktionieren.

Das Ganze geht über 90 Minuten. Zwischendurch fällt zur Auflockerung alle paar Minuten ein Fisch von der Theaterdecke. Und dann kommt Herr Perec selbst auf die Bühne und erklärt, dass Grün nicht Blau und auch nicht Schwarz oder Gelb ist. Das Geheimnis der Sprache. Alles ein Puzzle. Puzzle ist, wie der Kenner Perecs natürlich weiß, so was wie das Leitthema seines Werkes. Das Leben Gebrauchsanweisung ist, wie Harry Rowohlt sagte, ein Buch, das man jedes Jahr zumindest einmal lesen sollte. Mit Recht. Und dann gibt es den Roman ohne e und so. (Und Perec war Go-Spieler.)

Perec also trägt eine alternative Genesis-Geschichte vor, aber dann sind wir wieder im Computer, es gibt noch viel zu dekonstruieren. Besonders schön ist die existenzialistische Version auf Französisch oder die als klassisches Sonett. Aber am besten fand ich die italienische Version. Die ging ungefähr so:

Sopra tutte le vette E' pace. In tutte le cime degli alberi Senti A malapena un soffio Tutti gli uccelli sono silenziosi nella foresta. Aspetta e vedrai, presto Riposerai anche tu.

Das hört sich toll an, und ist von der Sprachmelodie das genaue Gegenteil des Nachtlieds. Leider gab es keine Esperanto-Version. Aber dafür hier eine in Toki Pona, von der ChatGPT mir versichert, sie fange den Geist des Originals ein:

lon kule sin, nena li lon. mi toki: mi li toki sin Ko.

Dann gibt es noch das Gedicht als Ballett, wobei sich die Schauspieler ein Hirschgeweih aufsetzen, und endlich geht es um Herrn Goethe selbst. Goethe und der Nationalsozialismus. Goethe und das Vaterland. Goethe und Schiller. Goethe und Schiller. Goethe und Schiller. Das wiederholen sie zwanzig, dreißig, hundertmal. Nach dem fünfzigsten Mal denkt man, wie blöd, aber nach dem zweihundertsten Mal entsteht ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Das Geheimnis des Universums entschlüsselt sich, als allmählich aus Goethe und Schiller ein Kanon entsteht. Ganz und gar wunderbar.

Und am Ende. Silentium, Ruhe, Stille, Quiete. Pst.

Schauspielhaus


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